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Der Abend des Unfalls aus meiner Sicht

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Ein paar Tage zuvor hatten wir überlegt am Freitag zum ersten Mal zur Blutspende zu gehen. Da wir aber nicht wussten, wie wir darauf reagieren und du am nächsten Tag Motorrad fahren und ich abends zu einem Kollegen auf die Einweihungsparty wollte, haben wir uns überlegt es zu verschieben.

 

Am Samstagvormittag haben wir dann die Leinwand mit dem Bild von dir auf der Rennstrecke aufgehangen, die ich dir 3 Tage vorher zum Geburtstag geschenkt hatte und den restlichen Vormittag überwiegend gemütlich kuschelnd auf der Couch verbracht. Ich erinnere mich, dass wir an diesem Vormittag noch über Kinder gesprochen haben – etwas, was mir im Nachhinein sehr lange nachhing.

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Im Mittag hast du dich dann verabschiedet zum Motorradfahren mit einem Kumpel. Ich bin abends gegen 17:30 Uhr wie geplant losgefahren auf die Einweihungsfeier meines Kollegen.

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Auf der Fahrt dorthin hatte ich plötzlich wie einen Schlag im Kopf und mir war ganz schwindelig. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben, aber ich musste sofort rechts ranfahren und anhalten. Ich hatte Angst einen Schlaganfall zu haben. Einige Minuten später ging es wieder etwas besser und ich fuhr weiter, hatte aber totale Kopfschmerzen. Den Vorfall unterwegs erzählte ich dort angekommen meinem Kollegen auf dem Balkon. Ich vermutete, dass es vielleicht daran lag, dass ich zu wenig getrunken hatte, wobei sowas noch nie vorgekommen war.

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Wir saßen dann auf dem Balkon, haben gegessen, geredet und was getrunken. Um ca. 19 Uhr kam ich das erste Mal auf die Idee dir zu schreiben, ob du schon gut Zuhause angekommen bist, auch wenn es da noch relativ früh war, aber mir kam in den Sinn, dass du sagtest, dass du früh Zuhause sein und früh ins Bett willst. Naja, vielleicht war dir was dazwischen gekommen…

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Als du um 20 Uhr noch immer nicht auf meine Nachricht geantwortet hast, wurde ich schon langsam unruhig. Aber spätestens als es dunkel war, wusste ich, dass was passiert sein musste. Du bist immer Zuhause gewesen, bevor es dunkel wurde. Ab da konnte ich mich auf kein Gespräch mehr richtig konzentrieren.

Ich rief Oma an, um zu fragen, ob du schon Zuhause bist und meine Nachricht nur noch nicht gelesen hast, aber dein Motorrad stand nicht in der Garage.

Ich wusste zwar, mit dem du unterwegs warst, aber hatte keine Nummer von ihm. Meine Kollegen bekamen meine Angst mit und versuchten mich zu beruhigen, dass schon nichts passiert sei. Dass du dein Handy verloren haben könntest oder ähnliches. Aber alles erschien mir unlogisch. Meine Kollegin googelte sogar, ob ein Unfall passiert ist, aber es war nichts zu finden.

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Als ich um 22 Uhr immer noch nichts von dir gehört hatte und es mittlerweile stockduster war, schrieb ich deiner Mama, ob du evtl. bei Ihnen bist. Ich wollte sie vorher nicht unnötig beunruhigen. Du warst leider nicht dort und auch deine Mama, die noch an der Arbeit war, war sofort in Alarmbereitschaft, weil sie wusste, dass ich niemand bin, der sich schnell Sorgen machte was das anging.

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Ich wusste es ist irgendwas passiert. Ich stellte mir diverse Szenarien vor…dass du bei einem anderen Unfall geholfen hast oder dass du einen Unfall hattest und im Krankenhaus bist. Ich wollte nur wissen, was los ist und zu dir. Aber kein Szenario beinhaltete die Realität, die einfach für mich nicht denkbar war und die ich von meiner Oma erfuhr, als ich gegen 23 Uhr erneut bei ihr anrief und die Polizei im Hintergrund zu hören war. Ihre Worte werde ich nie vergessen.

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Ich begann in Dauerschleife zu sagen „Nein! Nein! Das kann nicht sein! Das darf nicht sein! Das muss ein Irrtum sein!“ und bat meine Kollegen darum mit zu sagen, dass das ein Irrtum, nur ein böser Traum ist. Ich musste laufen, konnte nicht aufhören mich zu bewegen – vielleicht aus Angst die Erkenntnis könnte mich einholen. Ich bekam Schüttelfrost.

 

Dann rief deine Mama an, die mir sagte, dass sie mit der Polizei telefoniert hat und diese jetzt zu ihnen nach Hause kommen oder so ähnlich. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren und erst Recht konnte ich ihr nicht sagen, was ich gehört hatte. Wie soll man so eine Nachricht einer Mutter überbringen? Und außerdem würde es wahr, wenn ich es aussprechen würde.

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Mein einzig klarer Gedanke war, dass ich meine Mama sehen muss, aber bei ihr war besetzt. Wie ich später erfuhr, weil Oma gerade bei ihn anrief. Kurz darauf rief sie zurück und versprach sofort zu kommen. Die Stunde, bis sie dort war, kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich wollte einfach nur einen vertrauten Menschen um mich und nach Marvin war das meine Mama.

 

Ich brauchte frische Luft und lief draußen auf der Straße auf und ab, während ich auf sie wartete. Tränen gab es bis dahin keine, weil das bedeutet hätte, dass ich das, was ich gehört habe, als Wahrheit anerkannte, aber das tat ich nicht. Nicht solange es eine Verwechslung sein konnte.

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Wir fuhren dann nach Hessisch Lichtenau ins Krankenhaus, damit ich etwas zur Beruhigung bekomme.

Anschließend wollte ich gern zu deinen Eltern, aber ich war mir plötzlich in meinem verwirrten Kopf nicht sicher, ob das in Ordnung sei. Mama fuhr mich dann zu ihnen und dein Papa öffnete mir die Tür und nahm mich in den Arm. Entgegen meiner Zweifel war es wohl gut, dass ich dort war.

 

Es war der einzige Ort, an dem ich noch viele Wochen und Monate danach sein wollte, weil ich das Gefühl hatte, dass ich näher bei dir bin, wenn wir – die dich so gut kennen und denen du am meisten bedeutet hast – beisammen sind. Dort wurde mein Schmerz verstanden und geteilt.

 

Ich saß schweigend neben deiner Mama und hielt ihre Hand. Es waren ein Pfarrer und ein Arzt (?) anwesend. Kurz nach mir erschien noch deine Tante.

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Irgendwann fuhr ich mit zu Mama, um dort zu übernachten. Mir war klar, dass ich lange nicht in unsere Wohnung zurückkonnte. Aber bei Mama war eben auch nicht Zuhause.

Ich weiß heute nicht mal mehr, wie ich an meine Anziehsachen gekommen bin. Ich schätze ich habe sie selbst abgeholt, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht als ich auch ausgesucht habe, was du anhaben sollst?

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Die nächsten ein bis zwei Wochen sind total verschwommen. Man hat funktioniert, weil man musste und weil es mir wichtig war, es für dich zu tun. So war es mir zum Beispiel irgendwie auch wichtig, deinen Arbeitgeber selbst zu informieren. Ich war und bin deinen Eltern unheimlich dankbar, dass sie mich haben mitentscheiden lassen.

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Auch wenn ich über Dinge nachdenken musste, über die ich noch lange nicht nachdenken wollte - erst Recht nicht wegen dir!

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© 2023 by Mareike Brüßler

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